Im obersten Geschoss des Museums werden seit der letzten Museumserweiterung im Januar 2020 die Kunstwerke von Marietta Merck, der Mutter von Heidy Stangenberg-Merck, umfassend präsentiert.
Nicht nur die schwerpunktmäßige Bildnismalerei wird dort gezeigt, sondern auch einige Skulpturen und Plastiken. Diese verweisen auf Marietta Mercks künstlerischen Einstieg von 1916, der bildhauerische Ausbildung in Jugenheim bei Daniel Greiner und auf ihre Fortsetzung der Bildhauerausbildung (1918-1921) in München bei Jenny von Bary und bei Eduard Beyrer. Der Künstler Daniel Greiner war mit Skulpturen an der Mathildenhöhe in Darmstadt beteiligt und besaß in Jugenheim eine große Steinmetzwerkstatt mit 30 Angestellten. Die Münchner Kunstkollegen Eduard Beyrer und Jenny von Bary waren auch bekannte Bildhauer, deren Kunstwerke heute noch die Pinakothek in München zieren. Eine Skulptur, die Marietta Merck geschaffen hat, zeigt einen weiblichen Frauenkopf, undatiert, der aus Sandstein behauen wurde. Diese Skulptur wurde substraktiv, also wegnehmend hergestellt - im Unterschied zu einer Tonplastik, die additiv und modellierend aus dem Nichts erschaffen wird. Das heißt, der Künstler muss sich beim subtraktiven Behauen eines Gesteinsblocks genau überlegen: „Was muss ich wegmeißeln, damit eine Nase entsteht, damit Wangen vorhanden sind usw., und das Ganze bitte noch in einer geordneten Gesichtsproportionierung.“ Die aus einem vorgegebenen Block entfernte Masse kann nicht wieder angefügt werden, also salopp formuliert gilt für das Behauen des Gesteinsblocks: „Was weg ist, ist weg!“ Korrekturen sind also bei skulpturalen Arbeiten nicht möglich und erfordern höchste Konzentration beim Arbeiten. Marietta Merck bildete beim Behauen des Sandsteins ihre eigene Mutter Julia Merck, ab. Ihre aus dem Stein gemeißelte Gesichts-Physiognomie ist erkennbar als ältere Frau. Teile ihres Hinterkopfes tauchen jedoch in einem fast unbehauenen Gesteinsteil ein, nur grobe Werkspuren des Meißels, die Bosse, sind auf diesem Gesteinsteil zu sehen. Dieses künstlerische Gestaltungsprinzip des Unvollendeten nennt sich non- finito. Die fertigen Teile des Kopfes, der Gesichts-Physiognomie, sollen durch dieses absichtsvolle Non-finito des Hinterkopfes umso kunstvoller erscheinen. Das sogenannte Non-finito-Prinzip hat schon Michelangelo angewandt bei seinen Sklavenskulpturen von 1513-16. Nur waren sich die Kunsthistoriker darüber uneinig, ob er diese Unvollendung wirklich als Stilprinzip beabsichtigt hat oder es nicht eher einem zu vollen Auftragsbuch geschuldet war. Erst mit dem Werk des Bildhauers Rodin um 1900 wurde das Non-finito zu einer autonomen , bewusst gewollten, selbständigen Kunstform. Wunderschön ist sein Beispiel von „La pensèe“ (Der Gedanke) von 1886: ein vollständig durchgearbeiteter weiblicher Kopf, der aus einem unbehauenen Marmorblock herauszuwachsen scheint und sich leicht wie ein Gedanke herauskristallisiert. Marietta Merck hat sich also nur ein paar Jahrzehnte nach Rodin mit diesem Non-finito beschäftigt und ihre Mutter Julia auf diese Weise verewigt. Bei diesem räumlichen Kunstwerk ist zusätzlich noch ein Anteil des Tastsinns zu beobachten. Die Oberflächenstruktur des bearbeiteten Sandsteins ist teilweise eher stumpf, teilweise aber auch sehr rau und grob und damit variabel. Die Oberflächenstruktur der benachbarten Bronzeplastik, Marietta Mercks „Flüchtlingsfrau“, ist eher glatter, etwas weicher anzufassen. Insgesamt sind fünf dreidimensionale Arbeiten von Marietta Merck im obersten Geschoss des Museums Stangenberg Merck zu sehen. Gipsplastiken und Kunstzementarbeiten runden das haptische Spektrum ab. Eine Plastik kann auch im Dunkeln existieren im Unterschied zu einem Bild, und so ist es weniger erstaunlich, dass große Museen mit aufwendigen Skulpturensammlungen auch Führungen für Blinde und sehbehinderte Menschen anbieten, da diese Kunst fühlbar und auch greifbar ist. Ute Lieser
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AutorenYvonne Weber-Sturm Archiv
April 2021
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