Marietta Merck malte im Jahr 1985, sie war bereits 90jährig, das Ölbild „Die weisse Wolke“. Das annähernd quadratische Bild zeigt im unteren Drittel eine Mauer auf einer Hügelkuppe, über der sich eine weiß-graue Cumuluswolke aufbaut, die mit dem strahlend blauen Himmel im Hintergrund zwei Drittel der Bildfläche einnimmt. Am linken Bildrand, neben der Mauer situiert, ist ein Teil eines Hauses mit Flachdach angedeutet. Hügelkuppe, Mauer und Haus sind in Brauntönen koloriert, einzelne Steine bzw. das Fenster des Hauses wurden mit zarten Konturen angedeutet. Die Farbtöne des Himmels reichen von Lichtblau bis Taubenblau und wirken durch ihre fleckigen Auftrag bewegt und dynamisch. Die sich aufbauende bauschige Wolke ist von oben belichtet, der untere Teil ist mit grauen Akzenten abgetönt.
Eine Wolke als Hauptakteurin eines Bildes zu wählen, ist zwar ungewöhnlicher als sie nur als schmückendes Beiwerk in eine Landschaftsdarstellung einzubinden, steht allerdings in einer interessanten Tradition in der Kunstgeschichte. Jahrhundertelang wurden Wolken in der Malerei nur als Ort des Göttlichen und der Erlösung abgebildet. Sie waren Sinnbild des Transzendenten, wenn man beispielsweise an die wuchtigen Wolkenberge im Barock und in der Renaissance denkt, zwischen denen sich Engel und Heilige aufhalten. Wolken waren als reine Verortung einer religiösen Szene Gegenstand der erzählenden Malerei und besaßen keinen Eigenwert. Im 17. Jahrhundert in der Malerei der Niederlande ändert sich dies. Die angestrebte naturnahe Wiedergabe der Landschaft band auch die genaue Darstellung des Himmels und seiner Phänomene mit ein. Jacob van Ruisdael schuf weite Landschaften, bei denen der Himmel zwei Drittel der Fläche einnahm, und die Abbildung der Wolken ihren großen Auftritt hatte. Durch die Zeit der Aufklärung und der Beginn der modernen Meteorologie befassten sich die bildenden Künstler vermehrt mit der Natur und Wissenschaft, flüchtige Erscheinungen am Himmel wurden studiert und neu bewertet in die Kunst eingebunden. In der Zeit der Romantik wurden Landschaftsdarstellungen als Spiegel des inneren Seelenlebens besonders wichtig. Lichtreflexionen des Mondes in den Wolken kreieren dramatische Szenen, die Hell-Dunkelmalerei lässt Wolken lebendig und körperhaft erscheinen. Caspar David Friedrichs „Flussufer im Nebel“ und John Constables „Weymouth Bay“ machen Wolken endgültig zu Hauptakteuren in der Kunst, und insbesondere William Turner fasziniert mit seinen Szenen, die in Wolken-, Nebel- und Dunstdarstellungen fast untergehen. Der impressionistischen Formauflösung kam die Darstellung eines duftigen, lockeren Wolkenhimmels zupass und ein Expressionist wie Emil Nolde erfreute sich an der wechselnden Farbgebung der Wolken, die sich bei Gewitter, Sommersonnenschein oder Morgenrot ergibt. Marietta Merck entschied sich, mit einfacher Farbwahl und ihrer betont duftigen, leichten Malweise, die weiße Wolke als Hauptdarstellerin des Bildes wirken zu lassen, unterfüttert mit einer griechischen Landschaft, wie sie sie bei ihren Aufenthalten in der Ägäis mit ihrer Tochter Heidy Stangenberg-Merck erlebt haben mag. Noch im Jahr 1983, zwei Jahre vor der Entstehung des Wolkenbildes, unternahm sie eine Reise nach Lesbos, die vielleicht Inspiration zu diesem Werk war. Yvonne Weber-Sturm
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AutorenYvonne Weber-Sturm Archiv
April 2021
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