Eine Jugendstil-Villa voller Kunst: Das Privatmuseum Stangenberg-Merck in Seeheim-Jugenheim „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“, so lässt Goethe die Titelheldin seines Schauspiels „Iphigenie auf Tauris“, im Schwarzmeer-Exil fern der heimatlichen Gestade, ihren eigenen wehmütigen Innenzustand schildern. Heidy Stangenberg-Merck, direkte Nachfahrin des Goethe-Freundes Johann Heinrich Merck (1741-1791), ist diesbezüglich früh fündig geworden. Mitte der fünfziger Jahre, nach dem Studium an der Münchener Akademie und dem Besuch von Oskar Kokoschkas Internationaler Sommerakademie „Schule des Sehens“ in Salzburg, führte eine Reise sie nach Griechenland. Es sollte nur die erste von vielen sein. Bis ins laufende Jahrtausend hinein verbrachte die Malerin regelmäßig ausgedehnte Aufenthalte auf dem Festland wie auf den ägäischen Inseln, darunter namentlich Amorgos, das zu ihrem zweiten Zuhause wurde. Tausende Zeichnungen, lose und in Skizzenbüchern, vor allem jedoch Bilder in Öl und Tempera sowie Radierungen belegen die Faszination einer mediterranen Welt, mit Landschaften, deren Schönheit aus ihrer Herbheit erwächst, bevölkert mit Menschen, stolz und authentisch gerade dank – verglichen mit mitteleuropäischen Verhältnissen – oft archaisch-ärmlicher Lebenssituation.
Eine Malerei des Expressiven Realismus Der Fundus ist groß. Alles andere als klein ist aber bereits die immer wieder neu zusammengestellte Auswahl, zu sehen im Museum Stangenberg Merck im „Haus auf der Höhe“ am Ostrand des Bergstraßen-Städtchens Jugenheim, halb schon im Odenwald. Die im Kern von 1860 stammende, 1904 vom renommierten Jugendstil-Architekten Heinrich Metzendorf umgebaute Villa aus dem Besitz der Industriellenfamilie Merck, umgeben von einem weitläufigen Park am grünen Hang, dient seit 2010 als Privatmuseum, das freilich der Öffentlichkeit zugänglich ist und auch über eine Cafeteria verfügt. Heidy Stangenberg-Merck (1922-2014), die dort Kindheit und Jugend verbrachte, hat also die Eröffnung noch miterlebt. Verantwortlich für die Konzeption zeichnet, vom gemeinsamen Hauptwohnsitz München aus, ihr Ehemann, der Musiker und Dichter Karl Stangenberg, dessen Aquarellen im Museum ein separater Raum gewidmet ist. Ebenso wie malerischen und bildhauerischen Arbeitsproben von Heidys Mutter, Marietta Merck (1895-1992). Nicht zu vergessen die Wechselausstellungen im Souterrain des viergeschossigen Hauses, beschickt bald von engen Münchener Kollegen Heidy Stangenberg-Mercks, bald von aktuellen, jüngeren Künstlern. Den Löwenanteil der Hängefläche in den drei darüberliegenden Stockwerken freilich – inklusive des kürzlich renovierten Dachgeschosses 800 Quadratmeter! - dürfen zurecht ihre eigenen Werke beanspruchen. Wer auf einer stilistischen Einordnung besteht, darf diese Malerei dem Expressiven Realismus zurechnen. Wobei es nicht ungestüme Handschrift ist, was den Begriff rechtfertigt, sondern eine ins Leuchtende gesteigerte Farbigkeit. Sie ist es, die die aller überflüssigen Details entschlackte, auf kompakte Formen reduzierte Figuren- und Dingwelt intensiv präsent macht. Dabei so leitmotivisch dominant, dass auch sämtliche Teppichläufer und Sitzpolster der Villen-Innenausstattung darauf abgestimmt sind, ist das Blau. Nicht nur Meer und Himmel setzen das Blau auf den Inselszenerien in Kontrast zum Weiß und Ocker der kubischen Häuser und kristallinen Felsen. Es kehrt, in vielfachen Varianten, wieder in der Arbeitskleidung der Fischer, die nach dem Ausladen des Fangs die Netze zum Trocknen aushängen. Im Lack der Kaffeehaus-Tische, im Emaille-Überzug der Henkeltöpfe und Kannen oder im Schuppenkleid der Fische auf den frugalen Stillleben. Und, jedem Griechenland-Touristen vertraut, im Anstrich der Türrahmen und Fensterläden. Das Blau kann hinzutreten zum Schwarz bei der Tracht der alten Frauen. Es kann auf den Landschaften hinüberspielen ins Rosige oder Violette, je nach herrschendem Wetter oder Tageszeit. Dank des Blau überrascht der Stangenberg-Merck'sche Expressive Realismus gelegentlich sogar mit Kompositionen, die abstrakter Malerei ganz nahe kommen. Etwa bei jenen, die aufgebaut sind aus drei horizontalen Farbbändern, deren mittleres, schmalstes sich erst bei näherem Herantreten erweist als von fernher angesteuerte Küste mit mosaikhaft kleinen menschlichen Ansiedlungen, solide verklammert zwischen Himmel und Meer. Es bleiben nicht die einzigen Bild-Beispiele, mit denen Heidy Stangenberg-Merck es 1990 auf der legendären Heidelberger Themenausstellung „Blau – Farbe der Ferne“ mit jeder Konkurrenz hätte aufnehmen können. Stille, Schlichtheit, Konzentration Ob atemberaubende Weite der Natur oder in den uralten Rhythmen von Arbeit und Muße atmendes Inseldorf – stets sind es Stille, Schlichtheit und Konzentration aufs Wesentliche, was stimmungshaft von den Gemälden und Grafiken der Künstlerin ausströmt. Zweifellos ist es ein nicht-industrielles, im Grunde auch vor-touristisches Griechenland, worauf sich das Auge der Künstlerin spezialisiert hat. Selbst beim Thema Athen ist es nicht die sattsam bekannte Akropolis, der ihr Interesse gilt, sondern eine nüchterne Stadtrand-Ansicht. Stabile Bildverhältnisse und malerische Werte zählen allemal mehr als Sensationen. Die eigentliche Sensation für den Museumsbesucher liegt im Verzicht auf alles Laute, Schrille, spektakulär sich in den Vordergrund Drängende. Insofern läuft der Spaziergang durch volle 300 Werke von Heidy Stangenberg-Merck hinaus auf einen Erholungs-Kurzurlaub für Sinne und Seele. Und wer seine „Sehnsucht nach Griechenland“ - so der Titel der bis Juli 2021 dauernden Sonderausstellung – derart gestillt hat, dem winkt zu guter letzt doch noch etwas ziemlich Spektakuläres: ein Fenster-Fernblick aus den oberen Stockwerken des „Hauses am Hang“, der weit über die Rheinebene reicht, nordwärts zum Taunus, südwestwärts zum Pfälzer Wald. Dr. Roland Held
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AutorenYvonne Weber-Sturm Archiv
April 2021
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